Über Wurzeln und Schmetterlinge

Der Mann auf dem Foto ist mein Urgroßvater, Vater meines Großvaters mütterlicherseits, in stolzer Pose in einer nicht näher bezeichneten Kolonie des faschistischen Italiens in Afrika.

Mein Urgroßvater mag ein hartes Leben gehabt haben, aber den Geschichten nach zu urteilen, die indirekt bis zu mir gekommen sind, scheint er kein Engel gewesen zu sein. Er muss in den 1910er Jahren nach Brasilien emigriert sein, mit seiner Frau hatte er sechs Kinder, bis er bei der Geburt des letzten - meines Großvaters – Witwer wurde. Alleine und mit sechs Kindern im Alter von null bis zehn Jahren heuert er eine Art Haushälterin an, die er aber irgendwann des Diebstahls verdächtigt und schließlich, um es nicht zu lange hinauszuzögern, tötet und daraufhin verschwindet. Alle zurück nach Italien, nach Turin. Dort eröffnet mein Urgroßvater eine Schmiede, in der er meinen Großvater von klein auf auch arbeiten lässt, bis er beschließt, als Freiwilliger nach Afrika zu gehen. Tja, aber wohin mit dem Burschen, der mit 13 Jahren doch nicht allein gelassen werden kann? Warum nicht, in ein Jugendgefängnis damit: zuerst in Turin und dann in Ligurien. So gewöhnt sich mein Opa an das Insassenleben, doch glücklicherweise dauert das nur fünf Jahre, denn nach Beginn des zweiten Weltkriegs braucht das Vaterland mutige junge Männer, und er ist inzwischen wehrtauglich. Das Foto ist aus den Jahren, Mitte der dreißiger Jahre. Ich habe keine Ahnung, was mein Urgroßvater sonst noch in Afrika hat anstellen können, aber es gibt keinen Grund, Indro Montanelli herauszuholen, zählt man einmal zwei und zwei zusammen, ist man einfach wieder im Prozentsatz der Möglichkeiten. [Indro Montanelli war ein italienischer Journalist, Schriftsteller und Historiker, der bekanntlich als Freiwilliger in Afrika für 350 Lire ein Gewehr, ein Pferd und ein 12 Jahre altes Mädchen kaufte. Im Rahmen der weltweiten Proteste um die Black Lives Matter-Bewegung wurde in den italienischen Medien seine Geschichte wieder aufgebracht]

Für den Ausgleich dieses miesen Familienkarmas auf der mütterlichen Linie sorgten sicherlich schon mein Großvater selbst, der als Partisan unter dem Kampfnamen Leone gegen das faschistische Regime kämpfte, wie auch seine Frau - meine Großmutter -, die, wenn auch auf weniger "heroische" Weise, zum Widerstand genauso beitrug und sicherlich bis zum Ende eine widerstandsfähige Haltung beibehielt. Dieser "Alpha-Oma" verdanke ich mehr als meinem Opa einen gewissen Kampfgeist, der mich jetzt zum Beispiel eben zum Schreiben bringt, weil ich müde von der Leichtigkeit bin, mit der man die Verantwortung immer auf andere verschiebt, als ob uns armen Unschuldigen nichts jemals etwas anhaben könnte.

Um zum Familienkarma zurückzukehren: Die väterliche Linie ist nicht viel besser, und im Gegenteil, manchmal habe ich das Gefühl, einen Kamm geerbt zu haben, an dem noch einige karmische Knoten hängen. Mir sind noch kompliziertere Geschichten zu Ohren gekommen als die oben erzählte, die jedenfalls - in chronologischer Reihenfolge - Folgendes beinhalten: Verstorbene in einem Konzentrationslager in Ungarn, ein Mädchen in Einzelhaft wegen unbekannter Augenkrankheiten, SS-Offiziere, Verrat und Selbstmord, "Gütertausch"-Ehen, düstere Ereignisse in einem multiethnischen Fiume/Rijeka, Flucht und Diebstahl (unter Familienmitgliedern) gültiger Dokumente für die Ausbürgerung, verschiedene und allgemeine "es war besser, als er da war" (wo mit „er“ Mussolini gemeint war und woran ich mich persönlich erinnere, ausgesprochen von meiner anderen Oma) und jahrelange Unterstützung für das Berlusconi-Regime in der Generation unmittelbar vor meiner.

Alles in allem würde ich sagen, dass ich ziemlich gut groß geworden bin. Und um die Wahrheit zu sagen, war es mein Vater selbst, der sich wahrscheinlich einer bestimmten Art von Indoktrination nicht entziehen konnte oder wusste, der mir seine Liebe zu Sprachen, sein Interesse an fremden Kulturen, seine Neugierde und seinen Enthusiasmus für die Herstellung von Verbindungen zum „Andersartigen“ weitergegeben hat. Karma ändert man auch unbewusst.

Was ich nach all dem Familiendrama und zurück zum Foto meines Urgroßvaters betonen möchte, ist, dass jeder seine Leiche im Keller hat, und ich bin sicherlich nicht die einzige in Europa, die von europäischen Kolonisten abstammt. Und jetzt werde ich sicher eine riesige Banalität sagen, aber es ist doch klar, oder, dass white supremacy steht älter ist als Christoph Kolumbus und dass sie nicht erst in Amerika geboren wurde, sondern eine Haltung ist, die bereits in den Heiligen Kriegen erkennbar ist und welche Eroberung der Neuen Welt und kolonialen Imperialismus von diesem Kontinent aus durchlaufen hat, durch die Hände unserer Vorfahren.

Spanier, Portugieser, Engländer, Franzosen und Niederländer in der Neuen Welt.
Kolonisierung. Genozid. Sklaverei (von Einheimischen und Afrikanern).

Belgier, Türken, Franzosen, Deutsche, Italiener, Portugieser, Spanier, Engländer in Afrika und Asien.
Kolonisierung. Genozid. Sklaverei.

Eine weitere Anekdote, diesmal aus meinem eigenen Leben. Im Jahr 2004 arbeitete ich im Auditorium von Santa Cruz auf Teneriffa, einem brandneuen und gefeierten Meisterwerk der modernen Architektur des bekannten Calatrava. Ich kannte das Gebäude nicht, aber es dauerte nicht lange, bis ich die Merkmale eines Konquistadorhelms erkannte - wo Teneriffa die letzte europäische Station auf dem Weg nach der Neuen Welt war. In den offiziellen Beschreibungen des Gebäudes gibt es keine direkten Hinweise auf den Helm, und auf Calatravas Website ist von einer wellenförmigen Struktur die Rede, aber man braucht nur ein wenig im Internet zu surfen, um festzustellen, dass ich nicht die einzige war, die diesen Eindruck hatte. Und selbst wenn der Helm nicht integraler Bestandteil des ursprünglichen Projekts gewesen wäre, kann ich nicht glauben, dass das Endergebnis von Calatrava missverstanden worden sein könnte, ganz zu schweigen von der Gemeinde Santa Cruz, die sich deshalb noch in jüngster Zeit ein Symbol zu eigen gemacht hat, das in direktem Zusammenhang mit Kolonialismus und white supremacy steht.

Ho cominciato a scrivere questi appunti nel furore dei primissimi giorni successivi all’assassinio di George Floyd, con una rabbia dentro che ho faticato a far sbollire. Se c’è una cosa in me che si avvicina al razzismo, è l’odio nei confronti dei razzisti. Qui a Vienna ho partecipato a una splendida manifestazione di sostegno al movimento Black Lives Matter, di cui seguo eventi e progressi pensando soprattutto: finalmente. Leggo con avidità soprattutto gli articoli postati a riguardo sui social dagli amici neri o comunque non bianchi che ho sparsi per il mondo, nei cui relativi commenti ho dovuto spesso confrontarmi con una profonda ignoranza e un’innata saccenteria tipicamente bianche, per quanto queste persone si dichiarassero a favore del movimento e contro il razzismo.

Ich überspringe die Echtzeit-Zankereien zur Verteidigung eines stumpfen und unsensiblen "all lives matter". Als einziges Beispiel gebe ich den Kommentar einer weißen Frau wieder, die sagte, sie verstehe voll und ganz, wie es sich anfühlt, wegen der eigenen Hautfarbe diskriminiert zu werden, weil sie oft schikaniert und als dumm bezeichnet wurde, nur weil sie naturblond ist. Applaus. Vorhang.

Nun, ich glaube nicht, oder besser gesagt ich bin davon überzeugt, dass kein Weißer die Bedeutung des Schwarzseins vollständig verstehen kann in einer Welt, in der die Vorherrschaft der Weißen gilt. Zumal in dieser Welt die Vorherrschaft der Weißen eine Selbstverständlichkeit ist. Ich glaube nicht, dass irgendein Weißer wissen kann, was es bedeutet, in Angst davor zu leben, dass einem jemand wehtut, weil man schwarz ist und das war's. Vielleicht - und ich betone vielleicht - kann sich eine Frau, die alleine zur falschen Zeit am falschen Ort (und höchstwahrscheinlich in der falschen Kleidung) unterwegs ist, eine Vorstellung davon machen. Diskriminierung gibt es überall, das ist klar, es gibt Weiße und Weiße, von mehr oder weniger hohem Status, und wenn sie Ausländer sind, können auch Weiße stören (Haiders "Ausländer raus" ist hier in Österreich nicht weit und nicht nur zeitlich). Aber ganz ehrlich, worüber kann ich mich beschweren? Über die Tatsache, dass sobald man herausfindet, dass ich Italienerin bin, Momente des feinen Humors angesagt sind, mit den üblichen Witze über Mafia und Salvini?

Ich glaube, dass auch für uns arme Weiße, die wir nicht rassistisch sind, die niemanden diskriminieren, usw. usf., kurz gesagt, dass "es nicht unsere Schuld ist", die Zeit gekommen ist, zunächst einmal die Verantwortung für ein Phänomen zu übernehmen, von dem wir ein Teil sind, ob wir es wollen oder nicht. Zu erkennen, dass dieses Phänomen sehr lange und tiefe Wurzeln hat, die unweigerlich zu uns führen, und dass es jetzt an der Zeit ist, den angerichteten Schaden so weit wie möglich zu reparieren. Vielleicht in dem man beginnt, zuzuhören, dann zu versuchen, zu verstehen, dann darüber zu sprechen; und zwar nicht nur mit denen, die es so sehen wie wir, damit wir dadurch womöglich anderen Menschen helfen, zuzuhören, zu verstehen, zu sprechen.

Damit das klar ist: Ich habe nicht die Anmaßung, alles bestens zu wissen und zu verstehen. Und ich begrüße die Vorschläge meiner schwarzen oder jedenfalls nicht-weißen Freunde. Aus meinen Familiengeschichten wird jedoch deutlich, dass white supremacy steht, wenn auch tiefst gehasst, auch mir im Blut liegt. Das Mindeste, was ich zu meiner persönlichen und winzigen Entschädigung tun kann, ist, die Scham zu überwinden, das Böse zu bekennen und mich zu verpflichten, mehr zu tun - mit vollem Vertrauen auf den Schmetterlingseffekt.

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